Hallo liebe Wolke,
fällt dir in diesen Zeiten auch das ein oder andere ein bisschen schwer? Oder hat es gar nicht mit diesen Zeiten zu tun, sondern nur mit mir selbst, dass ich manchmal den Horizont nicht mehr sehen kann, weil mir zu viel die Sicht versperrt?
Seit fast einem Jahr ist die beste Freundin meiner Tochter nun wieder zuhause in Charkiw. Jeden Tag, wenn ich die Nachrichten-App öffne, lese ich etwas über Charkiw. Es sind keine guten Neuigkeiten. Im Gegenteil, es sind sehr schlechte. Und ich kann einfach nicht aufhören, an dieses besondere Mädchen zu denken, das auch mir ans Herz gewachsen war. Nie werde ich vergessen, wie wir sie vor einem Jahr verabschiedet haben. Verabschieden mussten. Für mich noch immer unverständlich. Und auch meine Tochter denkt oft an ihre Freundin. Und vermisst sie sehr.
Seit einem Jahr schreibe ich regelmäßig ihrer Mutter, wie es ihnen geht und ob sie in Sicherheit sind. Hin und wieder komme ich mir dumm und töricht dabei vor. Weil es vielleicht den Anschein macht, dass ich mich aufdränge. Man kennt sich ja nicht. Man hat sich nicht kennengelernt, die Mutter spricht kein Englisch, ich kein Russisch, aber mein Herz hat trotzdem alles verstanden. Immerhin was mein Mädchen und ihr Mädchen anging. Dafür brauchte es keine Sprache dieser Welt und ich bin ja selbst ganz überrascht davon gewesen.
Wenn ich eine WhatsApp in die Ukraine schreibe, komme ich mir manchmal albern vor, überhaupt zu fragen, wie es ihnen geht.
Denn ich kann mir ja nicht vorstellen, wie es ist, im Krieg zu leben, 16 Stunden im Bombenalarm auszuhalten. Zu überleben. Und trotzdem zu leben. Im Alltag, der wahrscheinlich keiner sein kann.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie sehr man sich mit seinem Land verbunden fühlen kann.
Wie groß der Mut und die Tapferkeit und der Zusammenhalt der Menschen sein müssen. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.
Und ich möchte mir die große Angst, die die Kinder vermutlich jeden Tag anfällt, weil Drohnen und Bomben explodieren, weil Soldaten mit Panzern vor der Stadt stehen, die den Tod bringen, nicht vorstellen.
Und trotzdem kann ich nicht anders. Vielleicht sollte ich mich einfach auch mal in Tapferkeit üben. Darin bin ich nicht sehr gut. Vielleicht sollte ich aufhören, Verantwortung für etwas übernehmen zu wollen, was ich nicht beeinflussen kann.
Weißt du, meine liebe Wolke, ich wünsche mir einfach nur, dass mein Herz irgendwann wieder den Horizont sehen kann, und noch viel mehr, dass meine Tochter ihre Freundin eines Tages wiedersieht. Und in die Arme schließt. Und dass alles gut sein wird.
Auf bald, liebe Wolke!