Ist Sterben schön?
Über Kinder und Trauer. Und meine Trauer. Und überhaupt über einiges.
Hallo liebe Wolke,
ich habe dir lange nicht geschrieben, richtig?
Manche Dinge möchte man erstmal nicht zu Papier bringen, über manche Dinge möchte man noch nicht mal nachdenken. Vielleicht liegt es auch an meiner Mentalität, lieber für eine Weile den Kopf in den Sand zu stecken, um meine Ruhe zu haben. Vor meinen Gedanken. Aber irgendwann rattert es ja doch wieder los – und das ist vermutlich auch gut so.
Kinder sind authentisch
Kinder sind beneidenswert authentisch. Aus Kindern bricht und brodelt alles hervor, was da so zu finden ist. Vielleicht nicht immer sofort und direkt, manchmal mit Verzögerung, aber wenn die Gefühle von kleineren Kindern auf den Wohnzimmerboden purzeln (oder in die Sommerluft geschrien werden), dann sind sie immer echt.
Und darum beneide ich sie. Denn Gefühle, die man eigentlich besser nicht haben will, als Erwachsener zuzulassen, ist nicht so einfach. Mir geht es zumindest so. Die letzten Monate und Wochen waren hart und ich habe oft überlegt, ob ich dir davon schreiben soll, liebe Wolke, oder lieber nicht.
Ist Sterben schön?
Nachdem meine Mutter nach langer Zeit aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war ich überrascht, weil ich nicht wusste, wer die Frau im Rollstuhl sein konnte, der ein Bein fehlte. Wegen dem verdammten Rauchen. Oder wegen was auch immer. Ich wollte nicht wissen, wer die Frau war, die so merkwürdig im Gesicht aussah, so gezeichnet von Krankheit und schlimmen Schmerzen. Gezeichnet von dem Wunsch, sterben zu wollen.
Ich konnte mir nicht denken, dass das meine Mama war, mit der ich, als ich vier Jahre alt gewesen bin, zum Ballettunterricht mit der Straßenbahn fuhr und die mich damals immer zum Lachen brachte. Die Mama, an der ich so sehr hing. Auch wenn ich es später nicht mehr zugegeben habe.
Diese merkwürdig aussehende Frau in diesem Rollstuhl, die mir sagte, sie wolle unbedingt in die Schweiz zum Sterben, ich solle mich darum kümmern, konnte nicht meine Mutter sein.
Verrückte Gedanken hat man manchmal.
Der lachende Stumpf und der Osterhase
Meine Tochter allerdings umarmte die Oma, als sei sie nie weggewesen, als sei gar nichts schlimmes passiert, und sie ließ sich alles erklären und von Oma den Stumpf zeigen und mein kleines Leben stellte fest, dass die Narbe aussieht, als würde sie lachen. „Oma, dein Bein sieht ganz fröhlich aus. Und bald bekommst du eine Pro-the-se. Dann kannst du wieder laufen.“
Ja, sagte meine Mutter. Ja, natürlich, so wird das gemacht.
Wir Erwachsenen wussten alle, es würde nicht so sein. Aber wir sagten es nicht. Meine Mutter würde keine Prothese bekommen und vielleicht das andere Bein auch noch verlieren. Wir alle wussten das, aber glaubten es nicht.
Wir glaubten scheinheilig, dass alles wieder gut werden wird, so wie man an den Osterhasen glaubt, weil unsere Familie das gut kann. Das Wegschauen, das Hoffen, das Nichtwahrhabenwollen. Immer schon.
Hilflos
Obwohl ich an die Zauberfee glaubte, die alles wieder zurückverwandeln würde, schnürte mir die Hilfslosigkeit alles ab.
Die Luft, das Herz.
Hilflos war ich und wütend. Jeden Tag saßen wir, mein kleines Leben und ich, bei meinen Eltern herum und ich schaute dem Elend zu, ohne irgendetwas tun zu können. Vielleicht auch zu wollen. Manchmal meinte ich, meine Arme sind so schwer, so kraftlos, ich würde sie nie wieder heben können. Meine Schultern schienen zu schmal, zu schwach, ich wollte und will nicht dauernd dieses Drama in meinem Leben. Ich habe die Nase voll davon. Ich hatte in meinem Leben ausreichend Drama. Dachte ich.
Und ich dachte: Wenn meine Mutter doch schon sterben will, dann soll sie wenigstens was Nettes zu mir sagen, denn sie war ja bei klarem Bewusstsein, bei Verstand. Sie soll endlich mal was Schönes sagen. Aber das konnte sie wohl nicht.
Heute bin ich froh, dass ich am Vortag ihrer Amputation mit ihr telefonierte, weil man ja wegen Covid-19 während des Shutdowns in kein Krankenhaus mehr durfte. Ich nahm während dieses Telefonats all meine Luft zusammen, vielleicht wäre es das letzte Mal gewesen, mit meiner Mutter zu sprechen. Mein Herz hätte nie mutiger sein können, und ich sagte in den Hörer: Ich hab Dich lieb.
(Wer meinen Roman* gelesen hat, der weiß, dass Ella, die Protagonistin, genau das nicht konnte. Aber ich hab’s geschafft. Und ich bin schon ein bisschen stolz darauf, denn das zu sagen, was für viele so einfach scheint, war für mich eine fast unüberwindbare Hürde.)
Ich hab dich lieb
Ich hab dich lieb. Und das stimmte. Das stimmt bis heute. Auch, wenn ich nicht ihr Lieblingskind gewesen bin. Wenn sie mich seit Klein auf damit bestraft hatte, mich tagelang für Nichtigkeiten zu ignorieren und alles, was ich tat, anzuzweifeln.
Es ist alles am Ende egal, weil ich weiß, dass ich sie lieb hab. Dass das nicht vergangen ist und wahrscheinlich nie vergehen wird. Und ich wünsche mir so sehr, sie würde mir von irgendwoher sagen, vom Himmel oder von dir, meine Wolke, durch einen Regenwurm oder mit einer Postwurfsendung auf den Balkon, dass sie mich nicht so doof fand, wie es oft den Anschein gemacht hatte. Ich weiß, das klingt bescheuert, aber das wünsche ich mir.
Vielleicht, Mama, könntest du das ja irgendwie einrichten? Das wäre toll. Das wäre wirklich wichtig. Wenn’s nicht geht, naja, dann mach dir auch keine Sorgen, ich komme zurecht. Danke!
Trauer
Und dann ging alles ganz schnell. Plötzlich war sie weg.
Ob das Sterben schön ist, hat mich meine Tochter gefragt und ich konnte ihr diese Frage nicht beantworten. Ich hoffe sehr, dass man seine Schmerzen nicht mitnehmen muss, sondern dass der Tod wirklich der Erlöser von allem Leid ist. Ich träume oft von meiner Mama und es sind keine schönen Träume. Aber vielleicht wird am Ende alles schön. Für jeden. Und es wird genauso, wie man sich sein Leben immer erträumt hat. Das fand meine Tochter gut und dann wird es der Oma nun sicher gut gehen und sie wird eine Menge Freude haben. Und ein nachgewachsenes Bein.
Happy End
Weißt du was, meine liebe Wolke?
Ich, für meinen Teil, möchte ganz unbedingt, dass meine Tochter zu jeder Zeit wissen wird, dass ich sie liebe. Von oben bis unten. Und mit allem Blödsinn, den sie im Kopf hat. Für alle schlaflosen Nächte. Wegen allem, was sie ist. Wenn sie das immer weiß, wird sie mich eines Tages vielleicht ein bisschen leichter gehen lassen können, als ich es mit meiner Mutter kann. Denn meine Liebe wird immer hierbleiben. Bei ihr. Sie wird es wissen.
Und ich auch.
Hoffnungsfrohe Grüße, meine Wolke und grüß meine Mutter, falls du sie sehen solltest!
Deine Susanne
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