Hallo liebe Wolke,
ist es nicht manchmal zum Piepen?
Neulich standen mein kleines Leben und ich an der Fleischtheke im Supermarkt an, das ist immer ein bisschen langweilig, für uns beide, und so schoben wir uns in der langen Schlange im Schneckentempo an Mortadella, Salami und Sülze vorbei, zählten die Plastiktrauben zwischen dem Aufschnitt – irgendwas muss man ja machen, um die Wartezeit zu überbrücken.
„Mama? Bekomme ich gleich ein Stück Fleischwurst? Ich liebe Fleischwurst nämlich.“, sagte meine Tochter und die ältere Dame vor uns drehte sich lächelnd zu uns um.
„Ja, ganz bestimmt.“, antwortete ich.
„Gut!“, grinste mich mein kleines Leben an, „Und… Mama? Was ist eine Vagina?“
Die ältere Dame vor uns machte eine halbe Pirouette und ihre Ohren färbten sich an den Spitzen rot, das sah eigentlich ganz hübsch zu der grauen Dauerwelle aus.
Aufklärung an der Wursttheke.
Pflaume, Pipimann und Co
Es gibt wohl für nichts so sagenhaft viele Bezeichnungen wie für die menschlichen Geschlechtsorgane, von niedlich über anatomisch bis vulgär – da ist für jeden was dabei, komisch eigentlich, denn eine Nase nennt man ja auch nicht einmal Schnüffelchen und ein anderes Mal Rotze. Oder so.
Ich war noch nie ein Freund von diesen Verhohnepipelungssachen, obwohl ich zugeben muss, dass es sich irgendwie netter anhört, mit einem Kleinkind unter zwei über die „Pflaume“ zu sprechen statt das Wort „Scheide“ zu benutzen. Das Wort Scheide klingt in meinen Ohren blöd, immer schon, vielleicht weil eine Scheide ja auch ein Behälter ist, der einzig dafür vorgesehen ist, ein Schwert (oder einen anderen scharfen Gegenstand) hineinzustecken – was ja im Ansatz nun auch nicht ganz verkehrt ist. Für die Zukunft gesehen.
In meiner kindlichen Aufklärungsarbeit fand der Begriff trotzdem seinen Platz, und deswegen war an der Wursttheke schnell erklärt, was eine Vagina ist; die Mini-Cabanossi würden aussehen wie der Penis von Kindergartenfreund Karl, meinte mein kleines Leben noch, als sie die Fleischwurst überreicht bekam und die ältere Dame war wahrscheinlich heilfroh, dass sie schon längst ihre 100 Gramm Putenbrust an der Kasse bezahlt hatte.
Natürlich, natürlich!
Kann man sich das als Erwachsener noch vorstellen, dass man ganz naiv und unbedarft mit seinem Körper umgeht, dass das alles völlig natürlich und selbstverständlich ist?
Kann man nicht. Jedenfalls nicht so wie ein Kind das macht, mit all dem Entdeckerdrang und der Neugier und den vielen Fragen, die im Laufe der Zeit so aufkommen.
In unserem Wohnzimmer hängt eine Fotocollage an der Wand, ein Sammelsurium der letzten Jahre: Mama schwanger, das kleine Leben klitzeklein, beide am Strand, mit Opa, angemalt, herausgeputzt – ein Querschnitt unseres bisherigen, gemeinsamen Lebens. Am Abend, als wir mit Mortadellabrötchen am Esstisch saßen, fiel der Blick meiner Tochter auf eben jenes Wandbilderbuch und dann sagte sie:
„Der liebe Gott hat mich gemacht!“
Öhm.
Der liebe Gott
Man kann das Leben ja von mehreren Seiten betrachten. Die einen haben es mit Religion, die anderen nicht so, ich eher nicht, weil man weiß ja, was Religion so anrichten kann – ich finde (und das ist nur meine bescheidene Meinung), Religion gehört abgeschafft, die heimst auf dieser Welt nur Ärger ein. Das bedeutet nicht, dass ich nicht an die guten Werte glaube, die alle Religionen dieser Welt in ihrem Kern vermitteln wollen – vielleicht wurden sie ja auch deswegen erfunden – das heißt weiter nicht, dass ich nicht auch an etwas glauben möchte, das mit Engeln und Liebe und Trost spenden und Hoffnung zu tun hat. Jeder hat ja seine eigene Art des Glaubens.
Vielleicht hat eine höhere Macht die Fleischwurst und die Erde erschaffen – und den Himmel und die Milchstraße und das Universum, wobei Stephen Hawking dazu wahrscheinlich eine andere Meinung hatte.
Klar ist auch: Wir leben in einem Land mit christlichen Werten und Geschichten, mit denen unsere Kinder aufwachsen. Sie sind Teil unserer Kultur und deswegen auch ein Stück unserer Allgemeinbildung. Ob sie am Ende, für einen persönlich, „nur“ Geschichten bleiben oder ob man etwas anderes draus macht, das bleibt jedem selbst überlassen. Bloß: Bei der biologischen Aufklärungsarbeit hat der liebe Gott kurz Pause. Auch weil es für unsere Kinder so sagenhaft wichtig ist, einen selbstbestimmten Umgang mit ihrem Körper zu lernen.
Metaebene
Mein kleines Leben hat, so rein technisch gesehen, garantiert nicht der liebe Gott gemacht, das wäre mir aufgefallen.
Metaebenen sind für (Klein-)kinder nur sehr schwer bis gar nicht zu begreifen – das mit der höheren Macht ist noch etwas zu hoch, außer es geht um beispielsweise Weihnachten, da halte ich mich im Moment lieber dann doch an die (biologischen) Fakten. Schließlich geht es um Aufklärung und nicht um den Auszug aus Ägypten.
„Papa hat das gesagt!“, mampfte meine Tochter abends mit Mortadella im Mund.
Aha.
„Du bist in meinem Bauch gewachsen, das weißt du doch, oder? Wir haben schon ganz viele Fotos angeschaut, wie mein Bauch immer größer geworden ist.“
„Ja, wie ein Luftballon! Und ich hatte immer Schluckauf und dann ist dein Bauch gehüpft.“
„Genau.“
Wir müssen beide lachen, kurze Stille, ich ahne, was nun kommt:
„Und wer hat mich dann gemacht, Mama?“
Ich bitte um Aufklärung…
Es sind diese Fragen, vor denen man immer ein bisschen Angst hat, dass man sie auch zufriedenstellend beantwortet, ohne sein kleines Mädchen irgendwie zu überfordern. Aber trotzdem: Die Sache mit dem Storch und den Bienen ist genauso unbefriedigend wie die mit dem Lehmklumpen und dem lieben Gott.
„Papa und ich haben dich gemacht. Damit ein Kind im Bauch wachsen kann, müssen die Mutter und der Vater, beide, einen Teil dazu geben. Deine Ohren sehen zum Beispiel so wie Papas Ohren aus und Deine Augen so wie meine. Daran kann man das merken.“
Ich wartete auf die Nachfrage, wie das genau funktioniert, es folgte aber nur ein Nicken, das mir zeigte, sie hatte es verstanden, mehr wollte sie im Moment gar nicht wissen, und das Mortadellabrötchen war wieder interessanter. Nahrungsaufnahme und Sexualität; die Grundbedürfnisse eines Menschen. Ehrlich gesagt, war mir das an diesem Abend ganz recht, denn so richtig vorbereitet, war ich nicht. Shame on me.
Ich kaufte am nächsten Tag ein Buch, in dem das mit dem konkreten Zeugungsakt sehr kindgerecht erklärt wurde – und ließ es ein bisschen zufällig auf dem Sofa liegen. Mein kleines Leben blätterte sehr interessiert von der einen Seite zur anderen und es fiel nicht nur mir, sondern insbesondere ihr, leichter, zu verstehen, wer sie denn nun WIE gemacht hatte.
Grundsteine
Ja, liebe Wolke, ich finde, es muss einem im Leben gar nicht so viel peinlich sein. Kinder geben den Takt schon vor, die wissen noch wie es geht; das mit dem Tempo – auch bei der Aufklärung. Wichtig ist dabei wohl nur die Ehrlichkeit und dass man verantwortungsvoll drüber spricht, damit das große Ganze mit Selbstverständlichkeit behaftet ist statt mit Scham – und dass man einen Grundstein der Prävention legt.
Weil es nun mal leider einige Menschen gibt, die der liebe Gott wohl irgendwie übersehen hat, und auch gerade wegen dieser Menschen, die meinem kleinen Leben hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich niemals begegnen werden, ist es dringend nötig, dass meine Tochter weiß, was eine Vagina ist, wie wertvoll ihr Körper und auch ihr NEIN sind.
Bis bald, meine Wolke!