Mein Leben lang

Hallo liebe Wolke,
weißt du, was „lebenslänglich“ bedeutet?
Im letzten halben Jahr habe ich eine Menge über mich begriffen. Warum ich so bin, wie ich bin. Warum ich mich so verhalte, wie ich es tue. Warum ich meine Tochter so sehr liebe. Wovor ich meine Tochter bewahren möchte. Und was ich mein Leben lang behalten werde.

Als ich klein war

Als ich klein war, so klein wie meine Tochter heute, noch klein, noch nicht groß, aber doch schon spürbar größer werdend – als ich also so klein war, kann ich mich an die ersten Male erinnern. An die ersten Male, als meine Mama mich ignorierte. Manchmal für nichts. Manchmal, weil ich mich in ihren Augen nicht so benommen hatte, wie ich es für sie sollte. Ich konnte meine Mutter anflehen, wieder mit mir zu reden, ich konnte mich tausendfach für Kleinigkeiten entschuldigen. Mit fünf. Oder acht. Mit zehn. Das letzte Mal mit 34 als ich hochschwanger gewesen bin und ich sie um eine Umarmung anbettelte – und sie sie mir verweigerte. Ich frage mich heute warum. Warum, Mama, hast du das getan? Wenn du gewusst hättest, dass du so früh und so elendig sterben musst, hättest du mich dann lieber umarmt? Lieber gemocht? Lieber geliebt? Statt mich zu ignorieren? Stundenlang. Tagelang. Wochenlang. Und jetzt lebenslang. Für Kleinigkeiten.

Es waren alles Kleinigkeiten, ich war ein liebes Kind, wenn ich mich so zurück erinnere, ja, ich war schon ein sehr braves Kind. Das war keine große Überraschung, denn ich lebte in der ständigen Angst, nicht mehr geliebt zu werden. An mir vorbei gelebt zu werden, als sei ich nicht mehr da. Oder meine Mutter. Da wird man ein braves Kind. Und man wird noch zu etwas anderem: Man wird zu jemandem, der ständig sucht.

Als ich groß war

Als ich größer war, vierzehn, fünfzehn, machte ich mich also auf die Suche. Ich streckte meine Fühler weit aus, um etwas zu finden. Etwas großes. Etwas, das mir immer und immer und immer wieder entzogen worden war. Ich suchte nach Liebe. Es gab nichts anderes in meinem Leben, das ich mehr haben wollte, das ich finden wollte und festhalten. Schule wurde mir egal. Studium wurde mir egal. Karriere war mir egal. Ich suchte einfach nur. Und verlor es immer und immer wieder. War ja klar. Ich war es nicht wert, geliebt zu werden. Das hatte ich mein Leben lang gelernt.

Als alles ein bisschen anders wurde

Als meine Tochter zur Welt kam, wurde alles ein bisschen anders, denn ich konnte die Liebe, die sich in mir aufgetürmt hatte, nun endlich weitergeben und ich überschütte meine Tochter damit. Vielleicht ist das erzieherisch nicht das beste Mittel der Wahl, vielleicht macht das meine Tochter arrogant, ich weiß es nicht, aber es ist mir egal, denn ich möchte, verdammt noch mal, dass sie für immer und ewig weiß: Meine Mama liebt mich. Lebenslänglich.

Und meine Tochter liebt mich. Bedingungslos. Nur allein dafür lohnt sich ein Menschenleben. Ehrlich wahr.

Als alles zu Ende war

Und trotzdem war und bin ich die lebenslänglich Suchende. Da kann man nicht gegen an. Das ist so tief verwurzelt, dass man das Unkraut nie ganz entfernen werden kann. Dass meine Mutter vor einem ganzen halben Jahr gestorben ist, fühlt sich für mich wie die letzte Bestrafung, das letzte Mal ignoriert werden, an. Auch wenn das absurd klingt. Ich kann einfach immer noch nicht glauben, dass meine Mutter jetzt weg ist. Nie wieder mit mir redet. Nie wieder die Chance haben wird, mich in den Arm zu nehmen. Oder ich sie. Ich kann das einfach nicht glauben. Verrückte Welt.

Als das Rotkehlchen kam

Seit einiger Zeit kommt täglich ein Rotkehlchen auf meinen kleinen Balkon geflogen, setzt sich auf mein Blumenregal und zwitschert. Ich habe ihm eigens Rotkehlchen-Futter und ein Rotkehlchen-Nist-und-Überwinterungshäuschen gekauft. Glaube, es fühlt sich ganz wohl.

Manchmal bilde ich mir ein, das Rotkehlchen ist bestimmt meine Mama. Sie ist zurückgekommen und sagt mir im Zwitscherton, ich soll nicht traurig sein. Und ich soll nicht suchen. Weil ich mir selbst genug sein kann. Weil ich eine gute Mama bin.

Lebenslänglich. Das bedeutet lebenslänglich für mich, meine liebe Wolke.
Wenn du später etwas höher fliegen solltest, dann sag meiner Mama doch bitte, ich will nicht schlecht über sie reden. Und sag ihr, dass ich mir gewünscht hätte, sie hätte noch mein Buch lesen können. Und es tut mir leid, dass ich nicht angefangen habe, es ihr vorzulesen. Und es tut mir noch mehr leid, dass ich sie nicht in den Arm nehmen konnte und trösten, als sie so schlimme Schmerzen hatte. Ich war nur so hilflos, weil ich bisher noch nie einen sterbenden Menschen gesehen hatte. Und sag ihr bitte, dass ich versuche, so gut es geht für Papa da zu sein. Und für Tobias. Neben allem anderen.

Oder ich sag es dem Rotkehlchen. Bestimmt versteht es das.

Mach’s gut, meine liebe Wolke, und bis bald!

Nach oben scrollen