Mama darf nicht schwach sein.

Hallo liebe Wolke,
wie geht es dir?
Ich liebe den Mai. Ich liebe ihn nicht nur deswegen, weil mein kleines Leben an einem sonnenbeschienenen Maisonntag geboren wurde und dieser Tag für immer ein ganz besonderer – und wahrscheinlich der bedeutendste für mich – bleiben wird. Der Mai ist voll mit Neuem, mit Grün und zarten Blüten, mit Wärme und so etwas wie Lebenskraft, die man wachsen sehen kann.

Beinbruch

Kraft, die fehlt mir nun schon seit längerer Zeit. Aber das darf man ja nicht so laut sagen, ohne dass man als Jammerlappen und Versager abgestempelt wird. Dabei ist das ja völliger Quatsch, denn das Ausgebranntsein ist im Grunde auch nichts anderes als ein Schnupfen, eine große Beule oder ein Beinbruch. Apropos: Wenn Müttern die Kraft fehlt, dann ist das ein Beinbruch. Und zwar ein komplizierter.

1.834 Tage

Meine Madita ist nun fünf Jahre alt, kein Kleinkind mehr, ein Vorschulkind. 73 Zentimeter ist sie seit ihrer Geburt gewachsen. 1.834 Tage bin ich mit ihr gemeinsam auf dieser Welt. Und 1.834 Nächte. Ungefähr 44.000 Stunden war ich bis heute nonstop mit ihr zusammen. Ich weiß nicht, wie viele Minusstunden mein Schlafkonto seitdem aufweist – und die Plusstunden an großer Liebe kann ich ebenso wenig zählen. Meine Tochter ist meine Lebensaufgabe, sie gibt genau allem den Sinn, den ich bis vor 1.834 Tagen gesucht habe. Und sie hat mir die Stärke gegeben, die für Schwachsein keinen Raum lässt.

Mount Everest

Mein kleines Leben kam vor ein paar Tagen nachts in mein Bett. Ich hab das gar nicht so mitbekommen, wie sie auf die Matratze und unter meine Decke kletterte – bis sie anfing, sich mit mir zu unterhalten. Ich war so unendlich müde. Seit fünf Jahren bin ich dauermüde, vor mir ragt der Mount Everest der Müdigkeit in den Himmel, der mir manchmal unbezwingbar eine lange Nase dreht. Ob ich ab jetzt immer müde sein werde bis ich alt bin?

Schwach sein

Mein Kind, und ich wiederhole mich, ist mein kleines Leben. Sie ist alles, wofür sich Stärke lohnt. Lebensumstände sind es, die müde machen können. Mit einem Kind durch alle Phasen zu gehen, allein, 44.000 Stunden lang, durch Trotz und Krankheit, durch Entscheidungen und Verantwortung – und dabei seine Stärke versuchen nicht zu verlieren, ist, was ausgebrannt sein lassen kann.

Keine Hand zu haben, die abends die eigene hält, die einen ohne Angst, sie zu verlieren, begleitet, die Pläne schmiedet, Häuser baut – und wenn es nur Wolkenkuckucksheime sind – diese Hand, die Ja! zu einem gesagt hat, nicht zu haben, kann einem Kraft rauben. Wenn man es zulässt.

Einen Job zu haben, neben dem Vollzeitjob „Mutter“, keinen Job zu haben, Frau sein, Freundschaften pflegen, sich selbst auch, Neues ausprobieren zu wollen, Altes sein lassen zu müssen, Wäschehaufen zu verkleinern, sich in Erziehung zu probieren, die grauen Haare wegzufärben, Falten glatt zu bügeln: Das alles hat mit Kräftemessen zu tun.

Kein Beinbruch

Man darf all dies tun, mit seinem Leben, mit seiner Zeit. Nur eins sollten Mütter nicht tun: schwach sein. Schon allein, sich schwach fühlen zu dürfen, nicht alles „oh wie wundervoll“ zu finden – nein, das ist nicht so gern gesehen.
Ich sag dir eins, meine liebe Wolke: Ich gebe meine Schwächen zu. Eine Dauermüdigkeitskrankheit ist was Blödes. Aber das ist ein Schnupfen auch. Beides ist allerdings kein Beinbruch. Man muss es halt nur erkennen, um es kurieren zu können. Und ich sage dir noch was: 1.834 Tage bedingungslose Liebe lassen einen noch in der schwächsten Minute stark fühlen. Richtig stark. Und deswegen wird der Mount Everest der Müdigkeit nur noch ein mittelgroßer Maulwurfshügel. Wenn man genau hinschaut.

Hab es schön, liebe Wolke!

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