Abschied nehmen. Die weltbeste Freundin kehrt in die Ukraine zurück. Ein Abschied für immer.
Abschied nehmen
Hallo liebe Wolke,
kennst du dieses Abschied nehmen?
Ich backe gerade Waffeln.
Waffeln backe ich nicht immer, aber meistens dann, wenn es mir nicht sonderlich gut geht. Wenn ich traurig bin oder wenn ich nicht weiter weiß, wenn mir was Schweres im Magen liegt, das mich drückt – oder eben, wenn ein Abschied naht und wenn es Zeit zum Abschied nehmen wird, dann backe ich Waffeln. Merkwürdige (aber immerhin leckere) Angewohnheit.
Abschied, Freundin!
Ich stehe in der Küche und das uralte Waffeleisen zischt und stöhnt wie eine Dampflok. Oder ein alter, zahnloser Drache.
Eigentlich ist es zu heiss, um Waffeln zu backen, draußen hat sich die schwüle Hitze breit gemacht, die ich nicht leiden kann. Hinter der geschlossenen Kinderzimmertür höre ich das Kichern, das mir in den letzten Monaten so vertraut geworden ist, das meinen Bauch ganz warm werden lässt, denn hinter der Kinderzimmertür kichern meine Tochter und ihre beste, weltbeste Freundin. BFF.
Und es wird das letzte Mal sein, dass sie dort kichern.
Mein Herz stolpert. Das Waffeleisen knurrt mich an.
Zurück in die Ukraine.
Heute ist Montag. Am Freitag wird die weltbeste Freundin mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zurück in die Ukraine gehen. In den Osten. Weit weg. Fast in Russland. Mitten in den Krieg werden sie zurückkehren und in mir dreht sich alles um. Wenn ich darüber nachdenke, dass dieses Mädchen, das meinem so ähnlich ist, die auch aufs Gymnasium hätte mitkommen können, nach den Ferien, und dass dieses Mädchen ab nächster Woche vielleicht nicht mehr in Sicherheit sein wird, wird mir übel.
Ich frage mich, wie sie dort hinkommen wird. Mit dem Bus? Ein Stück, so weit es eben geht, fliegen? Mit dem Zug? Was wird sie unterwegs sehen? Zerstörte Häuser? Verstörte Menschen? Wird sie Angst haben müssen? Wird sie sicher sein?
So viele Fragen. So viele Antworten, die mich wohl nichts angehen.
Ich hab dich lieb!
„Ich hab dich lieb!“, sagt meine Tochter zu ihrer Freundin und dann liegen sie sich wieder in den Armen und halten sich fest.
Meine Tochter zählt die Tage rückwärts, wann ihre Freundin weg sein wird und schlägt sich manchmal tapfer. Manchmal nicht. Nach der Handynummer fragen meine Tochter und ich abwechselnd seit vier Wochen vergeblich bei ihrer Mutter an. Vielleicht ist es besser so, wenn sie sie nicht bekommt. Vielleicht ist es besser, wenn alle freundschaftliche Liebe, die diese beiden Kinder verbindet, durchtrennt wird, denkt sich möglicherweise ihre Mutter.
Ein harter Schnitt ist vielleicht besser fürs Herz.
So viele „vielleichts“
So viele „vielleichts“. So viel Unsicherheit. So viele Gedanken.
Nur eins ist sehr wahrscheinlich sehr sicher:
Sie werden sich nie wiedersehen und kichern gerade das letzte Mal hinter der Kinderzimmertür.
Ich heule. Das Waffeleisen faucht.
Nun könntest Du sagen, liebe Wolke, das Leben geht weiter, es kommen neue Menschen. Andere gehen. So ist das eben.
Und ja, natürlich, so ist das.
Meine Tochter tut sich, ebenso wie ich, schwer mit Freundschaften und es ist etwas sehr Besonderes, dieser weltbesten Freundin begegnet zu sein.
Und ja, die beste Freundin wird ja nicht weg, nicht gestorben sein, nur tausend und mehr Kilometer, zwischen Luftangriffen und dem Wunsch nach Frieden, irgendwo unterkommen. Ohne Telefonnummer. Unerreichbar.
Und ja, die beste Freundin vermisst ihre Familie, ihre Sprache, ihr Land, ihr altes Leben.
Für-immer-Abschiede
All das weiß ich.
Ich habe aber die Nase voll, wirklich voll, von diesen Für-immer-Abschieden. Den Schmerz meiner Tochter spüre ich bis in den kleinen Zeh. Er durchdringt mich und ich möchte ihn ihr abnehmen und ihn tragen, damit er nicht auf ihren Schultern hockt und auf ihrer Brust drückt. Aber, ja, ich weiß: Auch dieser Schmerz, der Abschiedsschmerz, ist Teil von uns. Er hätte nur nicht jetzt vor der Tür stehen müssen.
Die Waffeln sind fertig. Es ist ein großer Waffelberg geworden, dieses Mal.
Der Abschied sitzt mit uns am Tisch. Ich schlucke und lenke uns ab und erzähle Nichtigkeiten, dann springen die beiden auf, nehmen sich an die Hand und umarmen sich, bevor sich die Kinderzimmertür wieder schließt.
Die beiden Mädchen, die sich so ähnlich sind, haben sich während ihres gemeinsamen Jahrs oft und viel und lange umarmt, weil das die Sprache ist, die jeder versteht.
Weil so Menschsein geht. Weil so Liebe geht.
Liebe Wolke, kennst Du auch diese Abschiede und das Abschied nehmen?
Ich finde, es gehört zu den schwereren Dingen und nur die Erinnerung an die kichernden Stunden hinter der Kinderzimmertür, und die Liebe, die wir mitnehmen und in unseren Herzen nie verabschieden werden, macht alles wieder leichter.
Leb wohl, liebe weltbeste Freundin und pass gut auf Dich auf.
Прощай, дорогий найкращий друг!
PS: Das Waffelrezept, das ich immer verwende, wenn es mir schwer ums Herz ist, findet ihr hier: Belgische Waffeln
Kennt ihr schon meinen kleinen Laden, in dem ihr meine Geschichten und Lehrmaterialien für Kinder im Vorschulalter findet?
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Hallo liebe Wolke – Wer schreibt hier?
Mama, (Wilma Wochen-)Wurm Expertin ;),
Schriftstellerin für Große und Kleine
Susanne studierte Germanistik und arbeitete als Designerin, bevor sie – inspiriert von ihrer Tochter – anfing, Kinderbücher mit „Wilma Wochenwurm“ zu schreiben und zu illustrieren. Sie findet, dass Humor eine gute Überlebensstrategie ist und dass die kleinen Dinge des Lebens oft größer sind, als sie scheinen. Davon erzählt auch ihr Roman „Das schräge Haus“, der im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen ist.
Auf ihrem Blog „Hallo liebe Wolke“ spricht Susanne mit Wolken über ihren Alltag zwischen Schriftstellerin und Mamasein, und stellt viele ihrer Geschichten und Materialien für Kinder ab 3 Jahren kostenlos zur Verfügung.