Text: Susanne Bohne, 2022
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Hallo liebe Wolke Mama,
weißt du, welcher Tag heute ist?
Ich glaube manchmal daran, dass Du alles weißt und siehst und das fühlst, was ich fühle, und erlebst, was ich erlebe. Und manchmal glaube ich all das nicht. Schließlich bist du tot und damit weg. Fern. Irgendwo. Nirgendwo.
Glauben
Ich weiß nicht, ob und was ich glauben soll und das mit dem Glauben ist im Generellen so eine Sache, aber heute jedenfalls ist ein besonderer Tag. Heute ist der Geburtstag meiner Tochter. Mein kleines, großes Leben. Sie war 7 Jahre alt als du sie das letzte Mal gesehen hast. Und sie dich.
Heute ist sie 9 geworden, sie ist unglaublich groß geworden, fast so groß wie ich. Unsere Schuhgröße ist schon fast die Gleiche. Ich wünschte so sehr, du könntest sie sehen und ich wünschte, ich könnte sehen wie erstaunt du darüber bist, „dass das Kind so groß geworden ist“.
Weißt du, Mama, ich bin wirklich stolz auf meine Tochter. Stolz, was sie geschafft hat. Stolz, was wir gemeinsam geschafft haben. Einfach war nicht immer alles. Wie du weißt.
Reden
Ich versuche manchmal, wenn ich allein mit dem Hund durch den Wald spazierengehe und in die Eichenbäume schaue, die zur Zeit so wunderschön hellgrün sind, mit dir zu reden. Irgendwo in die Luft zu reden und dir von meinem Leben zu erzählen und was alles passiert ist. Aber dann fange ich an und nach zwei Worten weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll. Und ob du mich überhaupt hörst.
Deine Stimme habe ich nur noch vage im Ohr, es ist zu lange her. Dabei sind es nur zwei Jahre, aber ich weiß nicht mehr genau, wie du dich angehört hast und das macht mich traurig. Ich weine viel.
Fräsen
Mama, es ist alles nicht so einfach. Ich arbeite viel. Wirklich sehr viel. Wochenende, Abende, Nächte, Schreiben, Bücher, Shop, Illustrationen, Social Media, Podcast, Rechtsanwalt, YouTube, Blog.
Und dann komme ich trotzdem auf keine grünen Zweige, Papa fragt mich ständig nach meinen Finanzen, du kennst ihn ja. Geld war ihm immer das Wichtigste. Und dann antworte ich, dass wir schon unser Auskommen haben, irgendwie, und dass es doch viel wichtiger ist, dass wir gesund und glücklich sind. Hört sich abgedroschen an. Pathetisch vielleicht.
Aber das mit der Gesundheit weiß ich spätestens seit dir. Die Sache mit dir, mit deiner Krankheit, mit dem Sterben, das war das Schlimmste, das ich je erlebt habe. Es hat eine Furche in mein Herz gefräst. Sie ist so tief, dass ich manchmal hineinfalle und nicht weiß, wie ich da wieder herauskommen soll.
Ich glaube, wir sind traumatisiert, das Jahr 2020 hat uns seelisch dort verwundet, wo wir noch unverletzt gewesen waren. Mein Bruder und ich.
Fehlen
Dein Sohn war im Krankenhaus, bis gestern, ich habe mir Sorgen gemacht, man hat ihn auf den Kopf gestellt und man konnte trotzdem nichts finden, was ihm fehlt. Dabei wissen wir es doch: du.
Du fehlst ihm und mir, und wie du uns verlassen hast, damit kommen wir einfach nicht zurecht. Und dann sind da zwar Menschen um uns herum, die manchmal versuchen, uns an die Hand zu nehmen, aber das Festhalten ist zu schwach. Die Hände schwitzig.
Dir über den Mann zu erzählen, Mama, der uns begleitet, das will ich schon länger, aber dann weiß ich wieder nicht, wo ich anfangen soll und dann lasse ich es bleiben. Wir wohnen nicht zusammen, wir gehen jeder oft unserer Wege. Schwer zu beschreiben.
Manchmal bin ich glücklich. Manchmal bin ich unglücklich. Manchmal wird es mir egal, was mich in dieser Beziehung beschäftigt hat. Wahrscheinlich kann ich nicht noch mehr in mir unterbringen und ich kann mir nicht noch mehr Gedanken machen. Dann läuft es eben so wie es läuft. Mein Kopf ist zu voll:
Kind erziehen, Arbeiten, Bücher schreiben, Hausaufgaben, Zeichnungen machen, Soziale Medien, Kochen, Einkaufen, Haushalt, Rechtsanwalt, Hund, Papa.
Können
Papa ist jeden Tag hier. Fast jeden Tag seit dem Tag, an dem du im Juni vor zwei Jahren gestorben bist, ist Papa hier. Ich liebe Papa wirklich, und ich ertrage es nicht, dass er allein ist und die Schuld an deinem Tod irgendwie mit sich herumträgt, ich will ihm wirklich gerne helfen und für ihn da sein, weil man das als Kind doch sein sollte: für seine Eltern da sein. Wenn ich es bei dir schon nicht konnte und nicht dafür gesorgt habe, dass du nicht sterben musst.
Papa ist jeden Tag hier. Es ist so viel. Es ist zu viel. Und ich kann es nicht sagen. Weil ich es nicht kann.
Wissen
Liebe Mama, weißt du, welcher Tag heute ist?
Es wäre so schön, wenn du es wüßtest. Wenn du wirklich das Rotkehlchen bist, das mir hin und wieder auf dem Radweg durchs Grüne begegnet. Ich möchte daran glauben, dass du es weißt. Dass du weißt, wie groß mein kleines Leben schon ist – und wie groß meine Liebe ist, die nicht in die Furche in meinem Herz gefallen ist.
Vielleicht bist du irgendwo. Vielleicht nirgendwo.
Aber heute ist ein ganz besonderer Tag. Und das wird er für immer sein.
Ich hab dich lieb!
Deine Sanne